Die historische Gaststätte “Im Kohl” gehörte viele Jahrzehnte zu den bekanntesten und beliebtesten Gasthäusern in Neuenrade. Die in einem stattlichen Fachwerkbau untergebrachte Wirtschaft und Herberge befindet sich nicht in der einst von Stadtmauern und Wassergräben umgebenen Altstadt, sondern östlich davon, in der heutigen Bahnhofstraße, die noch im frühen 19. Jahrhundert zur Feldmark des Ortes gehörte und nahezu unbebaut war. Das unter Denkmalschutz stehende giebelständige Gebäude hat einen fast quadratischen Grundriss und steht etwas zurückgesetzt an der Bahnhofstraße (Hausnummer 5). Das zweigeschossige Haus besitzt jeweils drei Fensterachsen. Die Ostseite ist massiv unterfahren, die Westseite ist vollständig massiv gemauert. Das pfannengedeckte Dach ist als Krüppelwalm gestaltet. Im Inneren erschließt ein in Firstrichtung gelegener Durchgangsflur das gesamte Gebäude, rechts und links liegen die Gasträume. Die Küche befand sich nach Lage des älteren Kamins in der nordöstlichen Ecke des Hauses. Eine gerade laufende Treppe führte zu den Gast- und Wohnräumen (aus dem Gutachten des westfälischen Amtes für Denkmalpflege) . Das genaue Alter des Fachwerkhauses ist - mangels fehlender Unterlagen - nicht bekannt. Die Fassade dürfte - nach dem baugeschichtlichen Befund - um 1820 errichtet worden sein. Die massiven Teile, insbesondere die steinerne Westseite, könnten von einem älteren Bau aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen.
Der Gasthof Im Kohl ca. 1910
Die Herkunft des Namens - “Im Kohl” - ist nicht restlos geklärt. Nach glaubhafter, mündlicher Überlieferung soll das alte Gasthaus den auf dem benachbarten Kohlberg als Köhler tätigen, d.h., Kohlenmeiler betreibenden Kleinunternehmern aus Dahle und Neuenrade als Versammlungslokal und Herberge gedient haben. Noch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Holzkohlengewinnung - auch wenn im 18. Jahrhundert große Teile des Waldes dem Kahlschlag zum Opfer gefallen waren - für das heimische Eisengewerbe noch immer unverzichtbar!
Wir wissen nicht genau, wer den Kohl erbaut hat. Da das Haus im Jahre 1831 als Eigentum der Witwe Diepmann ausgewiesen ist, kommt als Vorbesitzer und möglicherweise auch als Bauherr deren 1813 verstorbener Mann Theodor infrage. Theodor Diepmann (geboren 1732) zählte gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den vermögendsten Einwohnern Neuenrades. Er betrieb eine Lohgerberei, handelte in großem Stil mit Manufakturwaren auf den Messen in Frankfurt a. M, im Elsass, in der Oberpfalz und in der Schweiz und besaß - nach einem Bericht des Neuenrader Bürgermeisters Röttger Kohlhage aus dem Jahre 1810 - eines der “vorzüglichsten" Handelshäuser der Hönnestadt. 1794 wurde Diepmanns Vermögen auf 50.000 Reichstaler beziffert, was der beachtlichen Summe von ca. 500.000 Goldmark entsprach. Ungewöhnlich groß war auch der Grundbesitz der Familie: Dabei handelte es sich um nicht weniger als 13 Häuser, die über die gesamte Altstadt verstreut waren. Wie Theodor Diepmann das später “Im Kohl" genannte Haus zu seinen Lebzeiten genutzt hat, ist nicht bekannt. Wir dürfen aber annehmen, dass seine Witwe Maria Elisabeth geb. von der Crone (1752 - 1839) bzw. deren Erben, zu denen auch der Bürgermeister Gerhard Diepmann gehörte, das Haus zwischen 1830 und 1840 verkauft haben und dass dort eine Landgaststätte und ein Ausspann unter der noch heute bestehenden Bezeichnung eingerichtet wurde.
Der Gasthof Im Kohl ca. 1920
In den folgenden Jahrzehnten liegt die Geschichte des Gasthauses im Dunkeln. Erst für die Zeit um 1900 liegen wieder Nachrichten vor. Zu diesem Zeitpunkt gehörte der Gasthof einer Familie Overbeck, über die sich leider nichts Näheres ermitteln ließ. Im Jahre 1908 erwarben der Schreinermeister Franz Becker (1865 - 1937) und seine Frau Anna Juliane geb. Lindemann (1866 - 1950) die Gastwirtschaft. Franz Becker, der den Spitznamen “Fortschrittbecker" trug, stammte aus Balve und hatte dort zuvor ein kleines Sägewerk im “Krummpaul" betrieben; seine Frau Anna Juliane war eine Gastwirtstochter aus Ende/Hochsauerland. Unter der engagierten Leitung des Ehepaares Becker entwickelte sich der “Kohl" zu einer der beliebtesten und angesehensten Gaststätten und Herbergen Neuenrades; der Ausbau der Dahler Straße und der Bau der Hönnetalbahn in den Jahren 1909 bis 1912 ließ die Zahl der Stammgäste und der Übernachtungen kräftig ansteigen. Kaum bekannt ist, dass ab 1901 auch das Büro der Amtsverwaltung und die Dienstwohnung der Amtmänner August Seibach (1899 - 1909) und Fritz Kirchhoff (1909 - 1933) im “Kohl" untergebracht waren. Dieses Mietverhältnis endete erst mit der Errichtung des Amtshaus-Neubaus, des heutigen Rathauses, in den Jahren 1913/14.den neun Kindern des Ehepaares Becker (vier Jungen und fünf Mädchen) erbte der am 23. Februar 1907 in Neuenrade geborene Sohn Theodor das Gasthaus. Er verehelichte sich am 21.02.1934 mit Thea Schmidt (1905 - 1967), die aus Neheim stammte. Theodor Becker und seine Frau setzten die Gastwirtstradition der Familie mit Erfolg fort, auch wenn der bald ausbrechende Zweite Weltkrieg Entbehrungen mit sich brachte und zu unbeschwertem Optimismus kein Anlass bestand. Theodor Becker, der von noch lebenden Zeitzeugen als freundlicher und liebenswerter Charakter geschildert wird, hat den Krieg nicht überlebt; als Angehöriger einer Gebirgsjägerdivision fand er 1945 im Osten den Soldatentod!
Anna und Franz Becker
Wie viele junge Frauen und Mütter bei Kriegsende war nun auch Thea Becker mit den beiden Söhnen Helmut (geb. 1935) und Theodor (geb. 1942) auf sich allein gestellt. Doch Aufgabe und Resignation kamen für sie nicht in Betracht. Nach der Währungsreform ging es auch mit dem “Kohl" wieder bergauf. Zusammen mit ihrer Schwiegermutter, die allerdings schon 1950 verstarb, sorgte die resolute Wirtin dafür, dass der “Kohl" bald wieder zu einer guten Adresse im Neuenrader Gaststättengewerbe wurde.Thea Becker verpachtete das Gasthaus an den aus Sundern stammenden Gastwirt Helmut Löbbecke (geb. 1930), der den “Kohl" bis 1967 bewirtschaftete. Unter Löbbecke und seiner Frau Klärchen geb. Eigemeier setzte sich der von Thea Becker eingeleitete Erfolgskurs fort. Die Zahl der fast ständig belegten Hotelzimmer wurde vermehrt; der Bierausstoß der beliebten Gaststätte stieg auf 40 Hektoliter pro Monat, d.h., 130 l pro Tag, was 650 Gläsern Bier entspricht! 1967 verließ Helmut Löbbecke den “Kohl", um das soeben fertiggestellte Hotel-Restaurant “Kaisergarten" zu übernehmen. Noch im selben Jahr verstarb - völlig unerwartet - Thea Becker, die die alte Gaststätte an ihren Sohn Theo (geb. 22.01.1943) vererbte.Helmut Löbbecke folgten mehrere Pächter, die jedoch an dessen erfolgreiches Wirken nicht anknüpfen konnten und jeweils nur kurze Zeit den “Kohl" bewirtschafteten. Auf Hermann Riechers folgten Erich Lübke (genannt “Totti"), Manfred Bussmann, der die Gaststätte von Theo Becker käuflich erwarb, sowie Fred Schulz, der vormalige Wirt des Werdohler Schützenhofes und zuletzt ein türkischer Gastwirt. Vor wenigen Jahren ging der “Kohl" in das Eigentum der Volksbank über; von dieser kaufte es der Neuenrader Gastronom und Bauunternehmer Heinz Friedriszik. Heute gehört das Gasthaus, das zurzeit aufwendig instandgesetzt und demnächst unter fachkundiger Leitung wiedereröffnet werden soll, seinem Sohn Kai Jens Friedriszik.